Unrealistische Ansprüche
Nicht alle schaffen es bis nach ganz oben: Oft scheitert Glück an den eigenen Ansprüchen.
Jeder kann alles erreichen, wenn er nur wirklich will? Dieser Glaube führt dazu, dass sich Menschen selbst im Erfolg als Versager fühlen.
Die Welt, in der wir leben, wird uns als Welt der unbegrenzten Möglichkeiten verkauft. Jeder Bafög-Empfänger kann hier zum Top-Manager aufsteigen, jedes Mauerblümchen zum Super-Model, jeder Straßenjunge zum Fußballstar. Diesen Eindruck vermitteln die Medien, die Politiker, die Erzieher der Nation.
Aber wenn es stimmt, dass jeder alles erreichen kann, lautet der Umkehrschluss: Wer den großen Durchbruch nicht schafft, muss ein großer Versager sein! Und mit der Zahl der Möglichkeiten, die im Zeitalter der Globalisierung wächst, nimmt auch die Zahl der Gelegenheiten zu, bei denen wir scheitern können. Wer als Sachbearbeiter in seiner Kleinstadt-Filiale hängenbleibt, statt endlich das Weltgeschäft zu übernehmen, als Pizzabote durch die Straßen kurvt, statt endlich Millionär zu werden, oder die Pizzas verspeist, statt sich endlich zum Traumkörper zu hungern – der hat jämmerlich versagt.
Die Beweisführung ist ein Leichtes, denn immerhin hat es der Sohn einer Putzfrau, Gerhard Schröder, in Deutschland bis zum Bundeskanzler gebracht. Und sind die Fernsehsendungen nicht voll mit pickligen Teenagern, die sich zu Superstars verwandeln, sobald sie den Mund zum Singen öffnen? Kann man dort nicht Totschläger von einst bestaunen, die heute Prediger der Friedfertigkeit sind; strahlende Ministerinnen, die mit links ihren Führungsjob und die Erziehung von über einem halben Dutzend Kindern auf die Reihe bekommen?
Nur die wenigsten kommen ganz oben an
Wo alles möglich scheint, wird die Unmöglichkeit zum Feind des Individuums. Wer es noch nicht geschafft hat, seinen persönlichen Olymp zu besteigen, starrt neidisch auf die Gipfel und hört von dort: „Schau uns an! Es geht doch! Was machst du bloß falsch?“
Die junge Mutter, der es einfach nicht gelingt, beruflichen Erfolg und perfekte Haushaltsführung unter einen Hut zu bekommen; der Bewerber, der es einfach nicht schafft, seinen Traumjob zu ergattern; die Vorgesetzte, die sich überfordert fühlt damit, gleichzeitig als Fach- und Führungskraft zu brillieren, sie alle sagen sich: „Ich habe es nicht fest genug gewollt! Wenn ich es mehr will, dann klappt es auch.“
Und stimmt es denn nicht, dass ein starker Wille viel bewegen kann? Absolut. Aber nicht jeder Wille findet seine Möglichkeit. Schon der mathematische Verstand lässt ahnen: Auf den einen Sohn einer Putzfrau, der es zum Kanzler bringt, kommen Hunderttausende Putzfrauen-Söhne, die ihr Leben lang am unteren Ende der Bildungs- und Gehaltsskala feststecken. Auf einen Millionär kommen Dutzende von Nicht-Millionären (sonst müsste ein Vielfaches der Geldmenge im Umlauf sein). Und auf einen Popstar kommen tausende Hobbymusiker, die ihr größtes Konzert am Lagerfeuer geben.
„Nichts ist unmöglich!“, singt dennoch der Werbe-Chor, „du musst es nur wollen!“ Aber dieser Appell führt doppelt in die Irre, denn wenn wir zu sehr wollen, erreichen wir das Gegenteil. Versuchen Sie es selbst, ich wette mit Ihnen:
Wenn Sie unbedingt Ihren Traumjob ergattern wollen, sind Sie im Vorstellungsgespräch so aufgeregt, dass Sie allenfalls Ihre ausgeprägten Qualitäten im Stottern und im Verschütten von Kaffee unter Beweis stellen.
Wenn Sie unbedingt einen Großkunden an Land ziehen wollen, möglichst rasch, wird Ihre Ausstrahlung ihn in die Flucht treiben wie der jagende Hund das Reh.
Und wenn Sie unbedingt Ihr Traumgewicht erreichen wollen, werden Sie fortan aus allen Regalen des Supermarktes die Schokoriegel und Eispackungen Ihren Namen so verlockend rufen hören, wie einst Odysseus die Sirenen – nur dass es Ihnen kaum gelingen wird, sich an einen Bootsmast zu binden und diesen Lockrufen zu widerstehen.