Alles ist möglich – kannst du vergessen!

Unrealistische Ansprüche 

Nicht alle schaffen es bis nach ganz oben: Oft scheitert Glück an den eigenen Ansprüchen.

Jeder kann alles erreichen, wenn er nur wirklich will? Dieser Glaube führt dazu, dass sich Menschen selbst im Erfolg als Versager fühlen.

Die Welt, in der wir leben, wird uns als Welt der unbegrenzten Möglichkeiten verkauft. Jeder Bafög-Empfänger kann hier zum Top-Manager aufsteigen, jedes Mauerblümchen zum Super-Model, jeder Straßenjunge zum Fußballstar. Diesen Eindruck vermitteln die Medien, die Politiker, die Erzieher der Nation.

Aber wenn es stimmt, dass jeder alles erreichen kann, lautet der Umkehrschluss: Wer den großen Durchbruch nicht schafft, muss ein großer Versager sein! Und mit der Zahl der Möglichkeiten, die im Zeitalter der Globalisierung wächst, nimmt auch die Zahl der Gelegenheiten zu, bei denen wir scheitern können. Wer als Sachbearbeiter in seiner Kleinstadt-Filiale hängenbleibt, statt endlich das Weltgeschäft zu übernehmen, als Pizzabote durch die Straßen kurvt, statt endlich Millionär zu werden, oder die Pizzas verspeist, statt sich endlich zum Traumkörper zu hungern – der hat jämmerlich versagt.

Nur die wenigsten kommen ganz oben an

Wo alles möglich scheint, wird die Unmöglichkeit zum Feind des Individuums. Wer es noch nicht geschafft hat, seinen persönlichen Olymp zu besteigen, starrt neidisch auf die Gipfel und hört von dort: „Schau uns an! Es geht doch! Was machst du bloß falsch?“

Die junge Mutter, der es einfach nicht gelingt, beruflichen Erfolg und perfekte Haushaltsführung unter einen Hut zu bekommen; der Bewerber, der es einfach nicht schafft, seinen Traumjob zu ergattern; die Vorgesetzte, die sich überfordert fühlt damit, gleichzeitig als Fach- und Führungskraft zu brillieren, sie alle sagen sich: „Ich habe es nicht fest genug gewollt! Wenn ich es mehr will, dann klappt es auch.“

Und stimmt es denn nicht, dass ein starker Wille viel bewegen kann? Absolut. Aber nicht jeder Wille findet seine Möglichkeit. Schon der mathematische Verstand lässt ahnen: Auf den einen Sohn einer Putzfrau, der es zum Kanzler bringt, kommen Hunderttausende Putzfrauen-Söhne, die ihr Leben lang am unteren Ende der Bildungs- und Gehaltsskala feststecken. Auf einen Millionär kommen Dutzende von Nicht-Millionären (sonst müsste ein Vielfaches der Geldmenge im Umlauf sein). Und auf einen Popstar kommen tausende Hobbymusiker, die ihr größtes Konzert am Lagerfeuer geben.

„Nichts ist unmöglich!“, singt dennoch der Werbe-Chor, „du musst es nur wollen!“ Aber dieser Appell führt doppelt in die Irre, denn wenn wir zu sehr wollen, erreichen wir das Gegenteil. Versuchen Sie es selbst, ich wette mit Ihnen:

  • Wenn Sie unbedingt Ihren Traumjob ergattern wollen, sind Sie im Vorstellungsgespräch so aufgeregt, dass Sie allenfalls Ihre ausgeprägten Qualitäten im Stottern und im Verschütten von Kaffee unter Beweis stellen.

  • Wenn Sie unbedingt einen Großkunden an Land ziehen wollen, möglichst rasch, wird Ihre Ausstrahlung ihn in die Flucht treiben wie der jagende Hund das Reh.

  • Und wenn Sie unbedingt Ihr Traumgewicht erreichen wollen, werden Sie fortan aus allen Regalen des Supermarktes die Schokoriegel und Eispackungen Ihren Namen so verlockend rufen hören, wie einst Odysseus die Sirenen – nur dass es Ihnen kaum gelingen wird, sich an einen Bootsmast zu binden und diesen Lockrufen zu widerstehen.

Es ist wie in der griechischen Sage: Das Schicksal holt uns ein. Am Ende brachte Ödipus, wie vom Orakel von Delphi vorausgesagt, doch seinen eigenen Vater um und heiratete seine Mutter, obwohl er alles getan hatte, damit das nicht passiert. Es gilt das antagonistische Prinzip: Je mehr Sie sich zwingen, in eine bestimmte Richtung zu gehen, desto größer werden die Kräfte, die Sie in die Gegenrichtung ziehen.

Wer weniger will, bekommt am Ende mehr

Wir haben die Anforderungen der Eltern, die Ansprüche der Leistungsgesellschaft, die Illusionen der Werbeindustrie verinnerlicht. Wir streben nach dem maximalen Erfolg, nach dem vollkommenen Glück – und hinterfragen nicht die übertriebenen Ziele und das krampfhafte Wollen, die das Scheitern heraufbeschwören.

Das Ergebnis dieses Vollkommenheits-Wahns: Sechs von zehn Deutschen sind laut Glücksindex mit ihrem Leben unzufrieden. Obwohl wir mehr Geld in der Tasche haben, mehr Raum zum Wohnen, mehr Zugang zu Bildung als jemals zuvor.

Das Problem ist nicht die Wirklichkeit, sondern unser Anspruch. Wir wollen Perfektion, aber sind nicht fehlerlos; wir greifen nach dem Jackpot des Lebens, aber bekommen ihn nie ganz. Die Alles-ist-möglich-Lüge wird von Politikern, Erbmillionären und anderen Etablierten in die Welt gesetzt, die genau wissen, dass Geld, Bildung und Talent ungleich verteilt sind – meist zu ihren Gunsten. Die Menschen sollen das Versagen bei sich suchen, statt ihre begrenzten Möglichkeiten zu erkennen und am System zu rütteln.

Für den Einzelnen gilt: Wer weniger will, bekommt am Ende mehr. Eigene Ziele sollen durchaus herausfordern, aber eben nicht überfordern. Denn mit dem Maximal-Glück verhält es sich wie mit einem scheuen Vogel: Je beherzter man nach ihm greift, desto eher fliegt er davon. Quelle

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